Der kleine Poet

Raphael, der kleine Poet, muss dringend Frühjahrsputz machen. Den Frühjahrsputz für seine Seele. Was hat sich da nur alles angesammelt, in den vergangenen Jahren. Er kann den innersten Kern, die ursprüngliche Reinheit seiner Seele, gar nicht mehr erkennen.

Jetzt will Raphael sein Leben gründlich entrümpeln. Wo nur fängt er an? Am besten ganz von unten – ganz von vorn. Es ist ein Frühlingstag im März 1953, als er das Licht der Welt erblickt. Bald schon legt sich ein dunkler Schatten auf sein noch so kurzes Leben. Raphael kann die hellen Strahlen der Frühlingssonne nicht mehr sehen. Es gibt an diesem Tag keine Sonnenfinsternis. Nein, es ist eine kleine gemeine Zecke, die im hohen Gras auf ihn lauert. Dieses kleine Biest knipst bei Raphael für neun Monate den Lichtschalter aus.

Durch FSME wird er in einen langen Dornröschenschlaf versetzt. Raphael ist beinahe schon „Jenseits von Eden“. Da trifft er seinen Schutzengel. Der flüstert dem kleinen Poeten ins Ohr: „Mein Junge, für die lange Reise in die Ewigkeit bist Du viel zu früh dran. Die Zugfahrt in das Reich Nirwana wird auf unbestimmte Zeit verschoben.“ Dann reicht ihm der Schutzengel die Hand. Er führt Raphael zurück ins Leben. Der kleine Poet ist von Dankbarkeit erfüllt, spürt ein echtes Glücksgefühl. Seine Vergangenheit lebt auf, wird sichtbar und lebendig. Auf einem verstaubten CD-Cover blickt ihm die Sängerin Milva entgegen. Ihr Lied trifft mitten in Raphaels Herz: „Hurra, wir leben noch“. Das Leben schreibt interessante, merkwürdige und erzählenswerte Geschichten. Der Schutzengel mahnt den kleinen Poeten, die Worte des Herrn zu achten. Er schickt den Gemeindepfarrer als Religionslehrer, um das Wort Gottes zu verbreiten. 

Damit seine Predigt verstanden wird, zieht ihm der Diener des Herrn die Ohren lang. Und die Bibel muss noch einen Härtetest bestehen. Der Pfarrer will die Schlagfestigkeit von dem Buch des Herrn testen. Dem kleinen Poeten hat das Buch Gottes Schmerzen zugefügt. Doch Raphael verspürt wieder ein Glücksgefühl. Der Diener des Herrn wird von der Schule verwiesen. Im Spiegel der Erinnerung blickt Raphael zurück auf sein Leben. In seinem versteckten Herzenswinkel entdeckt er eine uralte verstaubte Zauberkiste. Neugierig und vorsichtig zugleich greift er mit beiden Händen hinein. Hinter einer undurchdringlichen Nebelwand verbirgt sich Geheimnisvolles.

Ein heller Lichtstrahl durchdringt den grauen Wolkenschleier der Vergangenheit. Das ominöse Wort „NEBEL“ wandelt sich um, in das Wort „LEBEN“. Jetzt wird dem kleinen Poeten klar: Er hat vieles bisher verkehrt herum betrachtet. Seine Geschichten, Gedichte und Lieder sind Kostbarkeiten. Raphael spürt die neu erlangte Freiheit. Vor ihm liegt die Zukunft. Er kann sich neu orientieren. Udo Lindenberg zeigt mit seinem Hut in die vorgegebene Richtung und gibt den wegweisenden Tipp: „Bleib cool Mann, hinterm Horizont geht’s weiter“. Die Lebensuhr tickt unbarmherzig weiter. Stunde für Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Raphael, der ehemals kleine Poet, kann heute jeden Augenblick genießen. Er weiß: Irgendwann wird sein Schutzengel zu ihm sagen: „Über sieben Brücken musst Du gehn“. Dann werden ihn Glücksmomente begleiten, in das Reich Nirwana.

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