Der bekannte Unbekannte 

Urplötzlich tauchten sie auf, für einen ultrakurzen Moment. Intensive Gedankenblitze, die sich tief im innersten Seelenwinkel von John bemerkbar machten. Winzig kleine Ideentröpfchen wurden größer und größer, formten sich zu einem kunstvollem Satzgebilde und sprangen vergnügt von Absatz zu Absatz. Er hatte sie wieder für sich entdeckt, die unerschöpfliche Quelle der Inspiration. Wie ein warmer Regen ergoss sich ein nicht enden wollender Wortschwall über die ersten Seiten von seinem Manuskript. 

Es war die Neugier, die unendlich erscheinende Neugier, die sich in ihm auftat. 

John wusste in diesem entscheidenden und auch wegweisenden Augenblick gar nicht, wie ihm geschah. Er war sich seiner unzähligen Möglichkeiten lange Zeit nicht bewusst. Wie nur konnte er seine in ihm schlummernden Fähigkeiten über all die Jahre, gar Jahrzehnte dermaßen vernachlässigen, dass über seine ureigensten Talente der graue Schleier des Vergessens gestülpt wurde. Er konnte es nicht fassen, dass seine gottgegebene Begabung für ihn selbst unauffindbar war, eigentlich gar nicht mehr existierte. 

Als kleiner Junge faszinierte ihn die unendliche Vielfalt der Sterne am Firmament genau so wie der alltägliche Sonnenaufgang. Das golden glänzende Licht am Himmel wollte er einfangen und für immer in seinem Herzen festhalten. Frei und unbeschwert wollte er sein, der Knirps mit den vielen Sommersprossen im pausbäckigen Gesicht. Mit gerade mal fünf Jahren konnte er in seiner Unbekümmertheit geschickt mit lustigen Wörtern jonglieren, die er wie Mosaiksteinchen zu heiteren Geschichten formte. Leicht wie eine Feder bewegte sich der kleine Stift, und wie ein Blatt im Wind füllte sich das Blatt Papier mit Leben. 

Im Spiegel der Erinnerung sah John jetzt deutlich dieses Bild vor sich, das ihm an einem grauen Novembertag aus längst vergangenen Zeiten wie eine Erleuchtung erschien. In einem verwunschenen Waldstück, das wahrscheinlich nur von Elfen und kleinen Trollen bewohnt wurde, fand er in einer versteckten Hütte eine uralte verstaubte Kiste. War es eine Zauberkiste? Neugierig und vorsichtig zugleich griff er mit beiden Händen hinein. In der morschen, vom Holzwurm zerfressenen Truhe verbarg sich geheimnisvolles. John fasste nach einer kleinen Kristallkugel. Im ersten Moment konnte er darin keine glasklare Lebensweisheit erkennen. Ein undurchdringlicher Nebelschleier umhüllte den innersten Kern dieser kleinen Murmel. Er betrachtete das Orakel nun mit angespannter Aufmerksamkeit. Dann stockte ihm beinahe der Atem.Urplötzlich erstrahlte ein heller Lichtstahl, durchdrang die dunklen Schatten der Nacht und das ominöse Wort „NEBEL“ wandelte sich um, in das Wort „LEBEN“ Blitzartig wurde ihm klar, dass vieles von den Menschen verkehrt herum betrachtet wird. 

Diese weltbewegende Erkenntnis wollte er sogleich seinen Eltern präsentieren, wollte sich als künstlerischer Wortakrobat zeigen. Die von ihnen erwartete Begeisterung blieb jedoch aus, schlug statt dessen in handfeste Verärgerung um. Verächtlich meinte sein Vater: „Mit dieser brotlosen Kunst könntest du allenfalls als Clown auftreten“ Etwas vorlaut entgegnete ihm sein Sprössling: „Dann hätten wir zu Hause wenigstens auch mal was zum Lachen. „Dir werde ich deine Flausen schon noch austreiben“ zürnte der Vater, und hob bedrohlich seinen hölzernen Haselnuss Stock, der sich vortrefflich für die seinerzeit als notwendig angesehene körperliche Ertüchtigung eignete. „Was soll nur aus dir werden, wenn du immer nur als Träumer durch den Tag läufst?“ ergänzte die Mutter in ihrer ebenfalls anerzogenen Unterwürfigkeit. 

Die Schatten der Vergangenheit, die nicht auf Rosen gebettete Kindheit verdrängten mehr und mehr seine wohl etwas sonderbar anmutenden Träume. Sollte dies die Welt von John sein? Sollte diese scheinbare Wirklichkeit auch sein eigenes Leben prägen? Viele Gegebenheiten schienen vorbestimmt. 

„Das war bei uns schon immer so, das wird morgen nicht anders sein.“ 

Diese vermeintlichen Lebensweisheiten waren wie ein altes Mauerwerk fest einzementiert. John‘s Eltern unternahmen jeden Versuch, den bröckeligen und brüchigen Familienverbund in ihrer Scheinwelt aufrecht zu erhalten. 

John kam es so vor, als müsse er besonders schnell zu einer gestandenen Persönlichkeit heranwachsen. Wohl deshalb hat ihm sein Vater ein ums andere mal die Ohren lang gezogen. Gerade dieses Hörorgan missbrauchte das Familienoberhaupt oft in derben Drohungen. „Du kleiner Bengel bist immer noch grün hinter den Ohren.“ Diese widersprüchliche, abwertende Bemerkung wechselte in steter Regelmäßigkeit mit seinem unmissverständlichen, fordernden Befehlston: „Du musst heute noch dies und jenes erledigen. Ich will nicht alles zwei mal sagen. Schreib dir das ein für allemal hinter die Ohren!“ 

„Was für ein Unsinn“ dachte sich John. Zum Geschichten schreiben eignet sich viel besser ein buntes Blatt Papier. Er sollte Recht behalten. Jedes Wort, jede Zeile, jeder zusammen gebastelte Satz, in farbenprächtige Fröhlichkeit getaucht, erheitert im Nu jede noch so zerrissene Seele. Die Aufforderung, sich etwas „hinter die Ohren zu schreiben“ war sozusagen die eigentliche Geburtsstunde von dem immer schon da gewesenen Wunschtraum John‘s, eine Geschichte mit glücklichem Happy End zu schreiben. Es war dieses einzige und auch einzigartige Wort: „SCHREIBEN“ das sich unauslöschlich in das kreative Denken von John einprägte. Noch bevor ihm seine neue, weitreichende Denkweise bewusst wurde, verspürte John ein heftiges Beben. So, als würde ihm der Boden unter den Füssen weggezogen. Er wurde von einem rauschenden Ideenfluss erfasst, wurde mitgerissen vom Strudel der immer größer werdenden Inspirationsquelle, die sich zu einem riesigen Delta mit tausenden fruchtbaren Gedanken und Erlebnissen ausweitete. 

Die Phantasiewelt von John erreichte nie zuvor gekannte Dimensionen. Er konnte jetzt deutlich die Stimme des bekannten unbekannten vernehmen. „Du bist ein wichtiger Teil des Universums. Du kannst auf Wolken tanzen, du kannst mit den Regentropfen Leben spendendes Wasser in die tiefsten Schluchten unserer Erde bringen.“ So musste es gewesen sein, als ein wahrlich buchstäbliches Saatkorn in John's ausgetrockneter Seele keimte. Er brauchte die Wunder des Lebens nur in maßgeschneiderte Worte kleiden. Mit neuen frischen Gedanken konnte er sich treiben lassen, wie ein Leichtmatrose im Sommerwind . Nichts und niemand konnte ihn aufhalten, auf dem abenteuerlichen Trip durch sein eigenes Leben. Vorwärts, immer weiter vorwärts wollte er kommen. Und doch fühlte er sich verfolgt. 

John blickte sich um, und starrte mit weit aufgerissenen Augen in ein sagenumwobenes Spinnennetz. Hilflos zappelnde Figuren hatten sich darin verfangen. Eine sonderbare Gestalt mit seltsam langgezogenen Ohren strampelte besonders heftig. Jetzt lief ihm ein Schauer über den Rücken. John erkannte sich selbst darin. Das kleine Kerlchen hielt zwei Schnipsel Papier in der Hand. So wie damals in der geheimnisvollen Kristallkugel standen darauf die von ihm selbst geschriebenen Worte: „NEBEL“ der sich in „LEBEN“ umwandelt. Er blickte in das Gesicht seiner Mutter, die ihm scheinbar ihre rettende Hand reichen wollte, ihn umklammern wollte. „Du kannst jetzt nicht gehen,“ rief sie ängstlich und sein Vater meinte vorwurfsvoll: „Vergiss nicht, wo du zu Hause bist“ Wollten ihm die Eltern etwa ein neues Heimatgefühl vermitteln? John brauchte nicht lange überlegen, um eine passende Antwort zu finden. „Ich war nie wirklich hier zu Hause, war euch im Herzen fremd.“ 

Er war über seine Aussage selbst überrascht, doch er wusste, für eine Umkehr war es zu spät. Seine eigene Identität, konnte er nur auf neuen Wegen finden. Spontan griff er nach der Langohrfigur. „Ich bin Johnny, nimm mich mit auf unsere gemeinsame Lebensreise“ redete der schon etwas hochgewachsene Jüngling auf ihn ein. Es war seine eigene innere Stimme, die er jetzt immer lauter rufen hörte. Können langgezogene Ohren doch nützlich sein, dachte sich John. „Wir sind eins, wir gehören zusammen wie ein Herz und eine Seele“ entgegnete mit einer unerwarteten Cleverness die andere Hälfte von seinem eigenen ICH. Beim Blick in die Kristallkugel zeigte sich nun die neue glasklare Zukunft von John. Er hatte so eben seinen eigenen Helden erschaffen. 

„Volle Kraft voraus“ rief der inzwischen zu einem strammen Jüngling herangewachsene Johnny. Er fühlte sich wohl in seiner Rolle als selbst ernannter Kapitän und Steuermann. Sein jugendlicher Elan war nicht mehr zu bremsen. Die Strömung des Ideenflusses wurde stärker und stärker. Es bildeten sich wortgewaltige Strudel, die den wieder erjüngten John in unergründliche und abenteuerliche Welten der Vergangenheit hineinzogen. Der lange nicht mehr benutzte Haselnussstock seines Vaters diente ihm jetzt als Orientierungshilfe, um wieder in die Spur zu kommen.

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